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Chirurgen müssen präzise Schnitte setzen, Implantate korrekt positionieren und im Team effizient zusammenarbeiten. Das trainieren sie im European Anatomy Campus in Mülheim – unter realitätsnahen Bedingungen an Körperspenden. Welche Rolle Nachhaltigkeit dabei spielt, erklärt Gründerin Yvonne Hubert.

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Organisiert OP-Kurse für Mediziner: Gründerin Yvonne Hubert. Foto: Privat
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Chirurgen müssen präzise Schnitte setzen, Implantate korrekt positionieren und im Team effizient zusammenarbeiten. Das trainieren sie im European Anatomy Campus in Mülheim – unter realitätsnahen Bedingungen an Körperspenden. Welche Rolle Nachhaltigkeit dabei spielt, erklärt Gründerin Yvonne Hubert.

 

Frau Hubert, das Geschäftsmodell des European Anatomy Campus klingt einzigartig: Ärzte können bei Ihnen an menschlichen Präparaten für Operationen trainieren. Die Körperspenden stammen von Menschen, deren letzter Wille es war, sich der Medizin zur Verfügung zu stellen. Wie ist die Idee entstanden?

Yvonne Hubert: Als ich die Firma 2011 gegründet habe, gab es so etwas in Deutschland noch nicht. Wir waren vermutlich das erste private Fortbildungsinstitut in Europa, das medizinische Workshops mit Humanpräparaten angeboten hat. Die Idee kam mir während meiner vorherigen beruflichen Tätigkeit, als ich Operationskurse an Universitäten unterstützt habe.

Was waren das für Kurse? 

Das waren Hands-on-Workshops, die früher ausschließlich in anatomischen Instituten möglich waren – an den Wochenenden oder in den Semesterferien, wenn die Studenten frei hatten. Das bedeutete einen erheblichen logistischen Aufwand und enorme Kosten. Zudem war die Organisation sehr aufwändig: Am Vortag musste man den Präparationssaal komplett ausräumen und röntgenfähige Tische, Röntgengeräte und Schutzkleidung reinräumen. Und natürlich wollen Fortbildungs-Teilnehmer auch mal was essen und trinken. Irgendwann habe ich nach einer alternativen Lösung gesucht. Und hatte die Idee, diese Kurse außerhalb der Universität, an einem festen, gut ausgestatteten Standort zu organisieren.

Hatten Sie da schon Ihre eigene Firma?

Nein, damals noch nicht. Irgendwann sprach uns ein Prothesen-Hersteller an, ob wir solche Kurse nicht auch für ihn exklusiv machen könnten, um die Qualität der Operationen zu sichern. Schließlich sind schon viele gute Prothesen vom Markt verschwunden, weil sie unsachgemäß implantiert worden sind. Wir haben gesagt: Klar, probieren wir aus – und haben gegründet.

Warum?

Das gesamte Geschäftsmodell beruht darauf, dass ich es liebe, Kundenwünschen zu entsprechen, Kosten zu minimieren und Prozesse zu optimieren. 2009 war ich so überarbeitet, dass ich gezwungen war, über meine eigenen Themen nachzudenken. Ich dachte: Warum bringen wir eigentlich immer den OP zum Patienten? Das macht in der realen Welt auch keiner. Dazu kam, dass ein fester Veranstaltungsort auch so konzipiert werden kann, dass die Kursteilnehmer mehr Möglichkeiten zur Entspannung und zum Networking haben – einen Ausgleich zum intensiven Operationstraining. Außerdem hatten wir hohe Transportkosten. Die, dachte ich, kann man auch in Raummiete, Löhne und Gehälter stecken. Also habe ich mich, auf die Suche nach einer eigenen Immobilie gemacht und einen Businessplan geschrieben.

Die haben Sie schließlich in Mülheim an der Ruhr gefunden: ein riesiges Grundstück im Grünen, aber trotzdem zentral in der Metropolregion Rhein-Ruhr.

Als ich das Gelände 2011 entdeckt hatte, bin ich direkt zur Bank und habe meine Idee vorgestellt. Mit deren Finanzierung und Unterstützung der lokalen Wirtschaftsförderung konnte ich die Immobilie mieten. Heute zahlt sich die zentrale Lage und Anbindung an Infrastruktur in der Metropolregion aus: 90 Prozent unserer Kunden kommen aus dem Ausland.

Warum kommen Mediziner aus der ganzen Welt nach Mülheim, um eine Fortbildung am OP-Tisch zu machen? Gibt es dazu keine digitalen Tools?

Roboter und KI helfen, aber bislang ersetzt in diesem sensiblen Bereich nichts das menschliche Gefühl. Ein Arzt muss spüren, wie sich ein Schnitt ins Gewebe anfühlt, wie sich der Knochen eines Patienten mit Osteoporose anfühlt. Auch die Teamarbeit im OP kann nicht durch virtuelles Lernen ersetzt werden. Außerdem gibt es immer neue Implantate: Das alles lässt sich am besten am OP-Tisch lernen.

Lernen in Präsenz bedeutet viele Reisekilometer für Ihre Kursteilnehmer. Können europäische Kunden auch nachhaltig anreisen?
Natürlich. Soweit möglich reisen die Ärzte mit dem Zug oder dem Pkw an. Das Thema E-Auto ist bei unseren Teilnehmern ein großer Trend. Sogar Fahrräder oder Shuttlebusse sind häufig. Mediziner sind durchaus umwelt- und kostenbewusst.

Für Ihr Geschäftsmodell brauchen Sie Ausstattung, Flächen und Energie. Wann haben Sie begonnen, sich Gedanken um Nachhaltigkeit oder Biodiversität zu machen?

Sehr früh. Das fing schon an mit unserem 5.800-Quadratmeter-Grundstück: Als wir es 2011 übernommen haben, war es ziemlich gepflegt, aber nicht genutzt. Wir haben unter anderem Blindschleichen, Ringelnattern und Hirschkäfer entdeckt – die letzteren stehen auf der Roten Liste. Von Anfang an haben wir deshalb darauf geachtet, das Werksgelände naturnah zu gestalten und etwa Totholz nicht wegzuräumen. Ein anderes Beispiel ist die Beleuchtung: Wir haben in den Seminarräumen und im Präparationssaal früh auf energieeffiziente Beleuchtung umgestellt. Auch Einweg-Materialien haben wir weitestgehend verbannt. Anderes kann ich allerdings erst angehen, seit mir das Gebäude gehört.

Weil es sich als Mieterin nicht gelohnt hätte?

Ja. Eigentum ist oft Voraussetzung für nachhaltige Investitionen. Wir wollen zum Beispiel eine Etage aufs Haus setzen und Photovoltaik aufs Dach bauen. Hier bremst uns die Bürokratie, der Antrag liegt dem Bauamt schon lange vor. Aktuell träume ich von einer Wärmepumpe, die unsere alte Heizungsanlage ersetzen soll.

Welche Bürokratie hemmt Sie konkret bei der PV-Anlage?  
Wir warten immer noch auf die Baugenehmigung. Sobald die da ist, würden wir gern loslegen. Auch unsere Kunden warten auf die entstehenden Kapazitäten. 

Ein wichtiger Punkt bei der nachhaltigen Transformation sind die Flächen: Gab es alternative Flächen im Siedlungsbestand, die Sie hätten erwerben können, um eine Flächen-Neuinanspruchnahme mit Versiegelung zu vermeiden? 

Wir haben uns bewusst für ein Grundstück entschieden, das von viel Wald und Grün umgeben ist – auch vor dem Hintergrund, dass sich unsere Gäste bei uns wohlfühlen müssen. Die klimaschonende Flächennutzung ist wichtig für uns. Die einzigen versiegelten Flächen sind die, die baurechtlich ohnehin erforderlich sind: Zufahrt und Parkplatzbereich. Und selbst hier wollen wir daran arbeiten, dass wir den aktuellen Zustand verbessern – zum Beispiel durch eine Entsiegelung oder eine nicht aufheizende Beschichtung.

Für Investitionen in Nachhaltigkeit braucht es Kapital. Bekommen Sie das problemlos von Ihrer Hausbank? 

Leider ist das nicht immer so einfach. Ich habe viel Restriktivität bei Banken erlebt – auch bei Investitionen in Nachhaltigkeit. Wir hatten zunächst Probleme, unser Geschäftsmodell zu erklären, und mussten unsere Bank wechseln. Es ging um die Finanzierung und das Entscheidungsbudget. Nach der Grundstücksteilung konnten wir die Rahmenbedingungen an den Bedarf der Bank anpassen und mit zwei neuen Partnerbanken finanzieren. 

Welche Rolle spielten Nachhaltigkeitsaspekte bei den finanzierenden Banken? 
Die Nachhaltigkeit hat in diesem Zusammenhang niemanden interessiert. Es ging allein um den Glauben an meine Person und das Geschäftsmodell. Mit Unterstützung der Wirtschaftsförderung Mülheim konnten wir schließlich Fördermittel generieren. Hierfür haben wir Arbeitsplätze geschaffen, die wir auch besetzen wollen.

Wie und bis wann möchten Sie am Ende vollständig nachhaltig werden?
Es gibt mehrere Themen, die wir schon angegangen sind, und einige, die wir gerade angehen. Emissionen verursacht der Stromverbrauch. Den konnten wir durch den Austausch der Leuchtmittel – wir nutzen jetzt LED – und eine Aufsplittung der Stromkreise schon stark senken: Statt 42.000 kw/h sind wir nun bei 35.000 kw/h im Jahr. Unser größter Energiefresser ist dabei die Kühlung: Wir brauchen eine Kühlkammer für die Körperspenden. Deshalb auch der Plan für eine PV-Anlage auf dem Dach. Aber wenn wir die schon aufs Dach setzen, dann will ich auch gleich das Dachgeschoss ausbauen und das Dach erneuern und dämmen.  

Das macht die Sache komplexer. 

Genau, und das ist auch der Grund, warum die Baugenehmigung so lange dauert. Den Antrag haben wir bereits 2022 eingereicht, und die Stadt ist sehr kooperativ, aber es müssen eben viele Fragen geklärt und Nachweise erbracht werden. Parallel sind wir dabei, Wallboxen anzuschaffen, damit unsere Gäste ihre E-Autos bei uns laden können.

Neben dem Stromverbrauch ist Heizen ein Emissionsthema. Wie heizen Sie aktuell und was sind Ihre Transformationspläne?  

Das Gebäude umfasst insgesamt 640 Quadratmeter, geheizt wird es mit einer Ölheizung aus den 1980ern. Aktuell verbrauchen wir 10.000 bis 13.000 Liter im Jahr. Zur Emissionssenkung stellen wir die Öl-Heizung in den warmen Monaten ab April ab. Der 700-Liter-Wassertank wird dann bei Bedarf mit Strom erhitzt. Im nächsten Schritt wollen wir Durchlauferhitzer in der Küche und den Bädern installieren, um weitere Heizenergie zu sparen. Und natürlich ist der Plan, auf eine Wärmepumpe umzusteigen. Das treibe ich gerade voran – je früher es klappt, desto besser.  

Ist Nachhaltigkeit für ein Fortbildungsinstitut ein Plus, um Kunden zu halten und neue zu gewinnen?  

Auf jeden Fall. Wir sind zwar als Kleinstunternehmen mit 12 Mitarbeitern selbst nicht berichtspflichtig. Aber wir machen hier Fortbildungen im Auftrag börsennotierter Medizintechnik-Konzerne. Für die sind Nachhaltigkeitsaspekte essenziell. Jedes Jahr müssen wir deshalb in Fragebögen beantworten, was wir zum Beispiel in Sachen Ressourcenschonung tun. Ich sehe Nachhaltigkeit für uns aber auch als Alleinstellungsmerkmal, das uns Kunden und Mitarbeiter sichert. Wer merkt, dass an einem Ort auf soziale Standards und ökologische Nachhaltigkeit Wert gelegt wird, kommt gerne wieder her zur nächsten Fortbildung.  

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Zum Unternehmen

Der European Anatomy Campus in Mülheim an der Ruhr ist ein medizinisches Fortbildungsinstitut. Es bietet Seminarräume und einen Präparations-Saal für realitätsnahe Anatomie- und Operationstrainings. Zielgruppe sind nicht nur Chirurgen, Orthopäden und andere Ärzte, sondern auch Physiotherapeuten, Osteopathen und Heilpraktiker. Zum Service gehört neben der Organisation auch die Aufbereitung der Körperspenden, mit denen gearbeitet wird.

 

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Workshops im Grünen: Der European Anatomy Campus in Mülheim. Foto: Privat
Der Campus verfügt über einen voll ausgestatteten Operationssaal. Foto: Privat

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