1. Hintergrund und Zielsetzung der Studie
Deutschland gehört im internationalen Standortvergleich zu den führenden Ländern. Doch die gute Positionierung ist aktuell in Gefahr. Denn die globalen Herausforderungen Demografie, Digitalisierung, Dekarbonisierung und De-Globalisierung betreffen Deutschland als klassisches Industrieland in besonderem Maße. US-amerikanische Tech-Unternehmen haben fast eine Monopolstellung bei wichtigen digitalen Dienstleistungen erlangt. Gleichzeitig holt China schnell in den Bereichen wie Digitalisierung und E-Mobilität auf und setzt unter anderen die deutschen Automobilhersteller unter hohen Wettbewerbsdruck. Deutschland muss daher sein Wachstumsmodell neu erfinden, um seine führende Rolle als Industrienation zu erhalten – auch mit einer klimaneutralen Wirtschaft. Die erfolgreiche Transformation der Energiesysteme ist hierbei der zentrale Schlüssel, der langfristig den deutschen Unternehmen wieder Wettbewerbsvorteile eröffnen kann.
Die Studie „Der Industriestandort Deutschland in Zeiten der Dekarbonisierung: Vergleich der Transformationsstrategien zwischen USA, EU und Deutschland“ (Demary et al., 2024) untersucht, wo Deutschland im internationalen Vergleich der Industrienationen heute steht und wie Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit vor dem Hintergrund der aktuellen Herausforderungen gesichert werden können. Dabei werden die Stärken und Schwächen des Standorts Deutschland analysiert und die unterschiedlichen Transformationsstrategien der EU und Deutschlands mit denen der USA verglichen. Um hier ein umfassenderes Bild zu erhalten, wurden acht Experteninterviews mit Vertretern großer Unternehmen und wichtigen Akteuren aus Deutschland und den USA geführt. Auf Grundlage der Analyse spricht sich das Gutachten für umfassende Reformen aus, um ausreichend Investitionen und Innovationen anzustoßen. Dieser Beitrag fasst die wichtigsten Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen der Studie zusammen.
2. Zentrale Erkenntnisse der Studie
- Deutschland steckt in einer Investitions- und Wachstumskrise. Hohe Energie- und Arbeitskosten, eine hohe Steuerbelastung, Bürokratie und ein Mangel an Arbeitskräften behindern Neuinvestitionen. Diese finden verstärkt im Ausland statt und es droht eine Verlagerung der Wertschöpfung.
- Der European Green Deal ist vorrangig ein Umweltprogramm und setzt strenge regulatorische Anforderungen durch EU-Taxonomie und Berichtspflichten. Der Green Deal Industrial Plan erlaubt mit der Flexibilisierung der EU-Beihilferegeln nationale Förderungen privater Investitionen. Der Vergleich mit dem US-amerikanischen Inflation Reduction Act (IRA) zeigt, dass Wachstum und Klimaschutz keine Gegensätze sein müssen, sondern sich gegenseitig befördern können. Investitionsprämien, wie der Investment Tax Credit und der Production Tax Credit, machen Investitionen in Klimaschutz auf einfache und wenig bürokratische Weise rentabel. Diese haben zudem den Vorteil gegenüber Fördergeldern, dass sie schneller und planbarer und ohne die Deckelung eines Fördertopfes funktionieren.
- Bei der Start-up-Aktivität hinkt Deutschland hinterher, obwohl disruptive Investitionen zusätzlich zu den Innovationen der Großunternehmen und des Mittelstandes benötigt werden. Ein zu hohes Maß an Bürokratie in Kombination mit einer noch nicht ausreichend digitalisierten Verwaltung bindet Ressourcen, die für Innovationsaktivitäten benötigt werden. Diese Innovationen werden dringend für die erfolgreiche Dekarbonisierung benötigt.
- In NRW muss aufgrund des hohen Industrieanteils besonders stark in Dekarbonisierung investiert werden: Bei einem Anteil von 21 % am deutschen Bruttoinlandsprodukt fallen hier 30 % der deutschen CO2-Emissionen an. Zwar stellt sich die USA technologieoffener dar als die EU, doch sind die USA deutlich abhängiger von den fossilen Energieträgern. Während die EU einen vergleichbar hohen Energieanteil aus erneuerbaren Energien und Nuklearenergie gewinnt, sind die USA auf Verstromung aus Öl und Gas angewiesen.
- Bei der Energieversorgung stehen erneuerbare Energien und nachhaltige Technologien in der ganzen Welt im Fokus. Die USA und auch andere EU-Staaten gehen aber im Vergleich zu Deutschland flexiblere Wege, indem sie stärker auf Carbon Capture and Storage (CCS)-Technologien und die Integration von Wasserstoff als Energieträger setzen und als Übergangstechnologien und zur Energieversorgungssicherung Atomenergie oder Fracking verwenden.
- Deutschland benötigt eine Wachstums- und Investitionsstrategie. Um den erforderlichen Strukturwandel zur Bewältigung der Transformation zu einer klimaneutralen Wirtschaft zu erreichen, müssen zusätzliche Anreize und bessere Rahmenbedingungen geschaffen werden. Erforderlich sind sowohl höhere staatliche Investitionen in Bildung und Infrastruktur als auch die Schaffung eines fairen internationalen Wettbewerbs um die besten Lösungen der anstehenden Herausforderungen.
3. Handlungsempfehlungen der Studie
Eine Investitionsagenda für den Standort Deutschland sollte eine Kombination von Reformen in den Bereichen Steuern und Förderung, Forschung und Innovation, Finanzmarkt, Produktivität und Wachstum, Fachkräfte sowie Energie und Infrastruktur umfassen. Von steuerlichen Investitionsanreizen und Fördermitteln, die Investitionen in Klimaschutz rentabel machen, über eine Reduzierung von Bürokratie und einer Beschleunigung der Digitalisierung in der Verwaltung, einer Vollendung der europäischen Kapitalmarktunion, einer Stärkung der Fachkräftebasis bis hin zu dringend benötigten Investitionen in Infrastruktur.
Die Maßnahmen für Klimaschutz, Produktivität und Wirtschaftswachstum sollten gleichzeitig erfolgen, damit Deutschland klimaneutral wird und wettbewerbsfähig bleibt. Die USA haben mit dem IRA für 10 Jahre rund 400 Mrd. US-Dollar für erneuerbare Energien und klimaneutrale Technologien bereitgestellt. Das entspricht übertragen auf Deutschland rund 4 Mrd. Euro an Investitionsprämien und 2 Mrd. Euro an Zuschüssen.
Die Industrie benötigt bei der Umstellung von Gas auf den aktuell noch teureren Strom und dauerhaft teureren grünen Wasserstoff verlässliche politische Rahmenbedingungen und Unterstützung. Hierfür ist eine verlässliche Entlastungsperspektive bei den Netzentgelten und eine Förderung von grünem Strom und der Entwicklung von Speichersystemen erforderlich.
Um die Marktkräfte zu entfesseln, um Produktivität, Wettbewerbsfähigkeit und Klimaneutralität herzustellen, bedarf es nun der richtigen Rahmenbedingungen in den folgenden Handlungsfeldern:
Steuern und Förderung
- Deutschland benötigt Impulse zur Anregung der Investitionstätigkeit. Klimaschutz und Wachstum müssen dabei keine Gegensätze sein. Investitionsprämien nach US-Vorbild können helfen, damit sich die Renditen von Investitionen in den Klimaschutz erhöhen.
- Maßnahmen in der Dimensionierung des IRA erfordern auf Deutschland übertragen jährlich rund 4 Mrd. Euro an Investitionsprämien und 2 Mrd. Euro an Zuschüssen. Das kann durch Umschichtungen im Haushalt finanziert werden. Um die Klimaziele zu erreichen, bedarf es darüber hinaus weiterer Maßnahmen, die ergänzende Finanzierungswege erfordern.
- Der Mittelstand ist ein wichtiger Innovationsmotor. Die Förderlandschaft ist zwar gut aufgestellt, jedoch ist sie äußerst komplex. Eine Reduzierung der Programmvielfalt zugunsten einer höheren Flexibilität innerhalb der Programme kann die Passung für die Unternehmen verbessern.
Forschung und Innovation
- Start-ups bringen die benötigten disruptiven Innovationen hervor. Die Ausweitung von Kooperationen mit Hochschulen im In- und Ausland sollte intensiviert werden. Ebenso intensiviert werden sollte die Kooperation mit mittelständischen Unternehmen. Diese können so leichter die Technologien der Start-ups über Akquisitionen erwerben und in ihrem Unternehmen innovativ umsetzen. NRW bieten sich hier noch große Potenziale durch die bessere Vernetzung der Hochschulen und der Start-up-Aktivitäten, um so Investoren einen einfacheren Zugang zu Anlagemöglichkeiten zu verschaffen.
- Um den Zugang zu Fördergeldern zu erleichtern und um Ressourcen der Unternehmen für ihre Kernaufgaben freizusetzen, müssen Verwaltungsdienstleistungen schnell digitalisiert und Bürokratie reduziert werden.
Finanzmarkt
- Große Kapitalanlagegesellschaften investieren international und präferieren einen großen, liquiden und integrierten Kapitalmarkt. Daher sollte die europäische Kapitalmarktunion vollendet werden, damit durch mehr Finanzmarktintegration grenzüberschreitende Finanzierungen verbessert und ihre Kosten gesenkt werden, um so mehr Eigenkapital sowie Mezzanine-Finanzierungen für die Transformationsfinanzierung bereitstellen zu können.
- Aktienmärkte unterstützen den Ausstieg von Venture Capital Investoren aus ihren Investments und ermöglichen ihnen, die freigewordenen Mittel neu zu investieren. Eine Stärkung der Börsengänge, insbesondere eine Erleichterung bei den Verwaltungsvorgängen, ist daher zu empfehlen, um die Wachstumsfinanzierung zu stärken.
- Transformationsprojekte sind häufig durch überdurchschnittliche technische Risiken und Marktrisiken sowie fehlende Anfangsrenditen gekennzeichnet. Für Investoren ist das Verhältnis von Risiko zu Rendite dadurch ungünstig. Amortisationskonten können fehlende Anfangsrenditen ausgleichen. Förderangebote und Transformationsfonds sollten zusätzlich erweitert werden, damit Risiken für Investoren abgefedert werden.
- Haftungsfreistellungen und Garantien ermöglichen Finanzierungen, wenn Transformationsrisiken aus Sicht der Bankenregulierung eine Finanzierung nur unter einer sehr hohen Eigenkapitalunterlegung erlauben.
Produktivität und Wachstum
- Die Dekarbonisierung wird nur gelingen, wenn gleichzeitig auch die Produktivität und das Wirtschaftswachstum gestärkt werden. Deutschland benötigt eine klimaneutrale und wettbewerbsfähige Industrie. Eine Steigerung der Produktivität und des Wachstums erfordert den Abbau von Bürokratie, verlässlichere Rahmenbedingungen und Planungssicherheit, eine Vereinfachung von Genehmigungs- und Planungsverfahren sowie die Digitalisierung der Verwaltung.
- Vor dem Hintergrund der notwendigen Investitionen in Infrastruktur müssen erhebliche öffentliche und private Finanzierungen mobilisiert werden. Für private Investoren müssen Risiken reduziert und Planungssicherheit geschaffen werden.
Fachkräfte
- Aufgrund der demografischen Entwicklung sind Fachkräfteengpässe ein limitierender Faktor für eine Vielzahl von Projekten. Zur Erhöhung des Arbeitskräfteangebots bedarf es zusätzlicher Anreize zur Arbeitsaufnahme sowie zur Verlängerung der Erwerbsphase.
- Für die Umsetzung der Transformation muss Deutschland attraktiver für Fachkräfte und Führungskräfte aus dem Ausland werden. Entscheidend ist z. B., dass die rechtlichen Rahmenbedingungen auch durch funktionierende Verwaltungsstrukturen effektiv umgesetzt werden. Vor allem im Integrationsbereich haben die Bundesländer große Spielräume bei der Ausgestaltung von Förderprogrammen.
- Die Erhöhung der Arbeitszeit wird für viele Fachkräfte nur möglich sein, wenn Betreuungsangebote zur Verfügung stehen. Der Ausbau der Betreuung ist für die Fachkräfteverfügbarkeit eine Grundvoraussetzung
Energie und Infrastruktur
- Die Produktionskosten der energieintensiven Industrie sind seit der Energiekrise deutlich gestiegen. Die Industrie benötigt bei der Umstellung von Gas auf den aktuell noch teureren Strom und dauerhaft teureren grünen Wasserstoff Unterstützung.
- Die Infrastrukturinvestitionen des Staates müssen umfassend ausgeweitet werden, damit die Transformation zur Klimaneutralität gelingen kann. Ein hohes Maß an Kooperation und Koordinierung der beteiligten Akteure ist dringend geboten. Vor allem vor dem Hintergrund der Herausforderungen der Transformation für die einzelnen Kommunen ist eine Stärkung der Kooperation zwischen Bund, Ländern und Kommunen als auch zwischen Kommunen zu empfehlen.
- Von der Bereitstellung zukünftiger Netze für Wasserstoff und CO2 bis zur Umsetzung der kommunalen Wärmeplanung müssen Investoren zur Finanzierung mobilisiert werden. Kommunale Transformationsprojekte sind für Investoren häufig zu kleinteilig. Durch die Bündelung und Standardisierung von regionalen Infrastrukturprojekten können attraktive Losgrößen für Investoren geschaffen werden. Hierzu bedarf es Initiativen auf Landesebene, welche die Kooperation der Regionen fördert. Die einzelnen regionalen Projekte sollten auf einer Infrastrukturplattform gebündelt und auf eine Infrastrukturgesellschaft übertragen werden, die für die Anleiheemission und Investor Relations verantwortlich ist.